Der schleichende Identitätsverlust
Am Anfang meiner Reise in Gemeinschaft stand - unter vielem anderen - die Absicht, mein „Ego“ zu verkleinern. Natürlich ohne dass ich eine Ahnung davon hatte, was das „Ego“ eigentlich ist.
Das Narrativ war „Ego“ = schlecht also weg damit.
Was ich damals nicht geahnt und mittlerweile ansatzweise verstanden habe: Mein Ego ist eng verknüpft mit meiner Identität, mehr noch, mein Ego ist meine Identität.
Mein Ego ist alles, was ich glaube zu sein, was ich erreicht habe, was ich nicht erreicht habe. Mein ästhetischer Geschmack, mein schlechter Stil, meine Art zu reden, zu denken und zu fühlen, meine Bedürftigkeit ebenso wie meine Eitelkeit. Meine Musik, mein bissiger Humor.
Mein Ego ist eigentlich alles, was von mir nach aussen wirkt.
Wenn ich in den Notizen aus den ersten Jahren des Wandelhofs, wo ich aufgeschrieben habe was dieser Ort für mich bedeutet, stöbere, dann lese ich Schlagwörter wie:
„Zwischen Irrsinn und Geborgenheit“ — „Die tägliche Erinnerung an eine grosse Sehnsucht, die sich nie erfüllt“ — „Gefühl der Enteignung“ — „Die Kunst inmitten von fremden zu ruhen“ — „Der Kampf ums tägliche ich“ — „Verlorene Illusion und gewonnene Relation“ — „Stetige Kleinerwerdung“ — „Das Fremde beginnt oft vor meiner Zimmertür“
Zweifellos habe ich es zu tun mit einem hartnäckigen Ego, dass sich mit aller Macht versucht, am Vergangenen zu halten.
Und doch erkenne ich allmählich Risse darin. Stück für Stück, Jahr um Jahr wird es tatsächlich kleiner. Meine festen Überzeugungen beginnen zu wanken. Was ich über Jahrzehnte verbissen, als Mein erachtet habe, verliert an Wichtigkeit. Meine alten Antworten weichen neuen Fragen.
Meine Wirkmacht schrumpft und ich gewinne an Bedeutungslosigkeit.
Und, ganz langsam beginnt eine neue Erkenntnis in mir zu landen. Die Erkenntnis, dass alles, was mir an meinen Mitbewohnern so fremd erscheint, mich irritiert, zu weilen verärgert und manchmal an den Rand schierer Verzweiflung bringt, letztlich ebenfalls nicht mehr als die Manifestation von weiteren Egos ist — genauso verunsichert, genauso belanglos und auf dem Weg wie mein eigenes.
Die Einladung ist es also, hinter den Fassaden der Identität etwas zu erahnen und manchmal sogar zu erhaschen, was ich am ehesten mit einer klaren und aufrichtigen Präsenz beschreiben kann.
Es ist der Kontakt mit dieser Präsenz, der oft nur ein paar Sekunden, manchmal ein paar Minuten und selten über Stunden dauert und mit zum Nährendsten gehört, was ich erfahren darf.
Der Gedanke tröstet und motiviert mich gleichermassen.
Tröstet, weil er das Sonderliche im Eigenen und im Fremden relativiert. Motiviert, weil er mir bestätigt, hier in dieser Gemeinschaft einen Ort gefunden zu haben, der mich immer weiter fordert und der mich zunehmend versöhnt mit dem Menschen, der aus mir geworden ist und vielleicht sogar etwas näher bringt, zu dem, der ich tatsächlich bin.
Zum Schluss und als Essenz noch in den Worten von Richard Beauvais, der verschiedene therapeutische Gemeinschaften gegründet und viele Menschen mit seiner Methode des Bondings begleitet hat:
„Wir sind hier; weil es letztlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt.
Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht.
Solange er nicht zulässt, dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für ihn keine Geborgenheit.
Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich noch andere erkennen – er wird allein sein.
Wo können wir solch einen Spiegel finden, wenn nicht in unseren Nächsten?
Hier in der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig klar über sich werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der – Teil eines Ganzen – zu ihrem Wohl seinen Beitrag leistet.
In solchem Boden können wir Wurzeln schlagen und wachsen; nicht mehr allein – wie im Tod – sondern lebendig als Mensch unter Menschen“
Richard Beauvais (1964)
Text: Marcel Briand